Messen sind tot! Sind sie das?

18. Mai 2021

Durch Corona liegt die gesamte Messe- und klassische Eventwirtschaft am Boden. Messe- und Eventveranstalter sowie die Dienstleistungsbetriebe in und rund um die Veranstaltungswirtschaft kämpfen um ihre Existenz oder haben den Kampf bereits verloren. Alle? Nein, alle nicht, nur die, die sich nicht rechtzeitig mit der Digitalisierung, ihren durchaus absehbaren Folgen und ihren
Möglichkeiten für das Messe- und Eventgeschäft veränderungsoffen auseinandergesetzt haben.
Eigentlich hat Corona auch in diesen Branchen den Prozess der Digitalisierung nur beschleunigt. Zwar werden die Digitalisierung und der dadurch bedingte technologische Wandel seit gut 10 Jahren quer durch alle Branchen, Arbeits- und Lebensbereiche thematisiert, aber erst die Pandemie hat in der Breite die etablierten Prozesse, Routinen und Formate aufgebrochen. Denn diese waren in Folge
schlicht nicht mehr möglich oder wurden im Veranstaltungsbereich trotz zum Teil durchaus findiger Hygienekonzepte aussteller- und/oder besucherseitig nicht mehr angenommen.

Digitale Tools und Formate schossen 2020 als virtuelle Substitution bisher physischer Formate aus
dem Boden. Kundenbesuche wurden durch Videokonferenzen ersetzt, Seminare durch Internetkurse, Messen und Events durch Veranstaltungen in virtuellen Räumen. Und siehe da, plötzlich war Vertriebsarbeit auch ohne Geschäftsreisen möglich, Produkte konnten erfolgreich über Internetkanäle gelauncht und verkauft werden, Branding und Kommunikation funktionierten über
Social Media Channels weiter.

Wird sich das alles wieder ändern, wenn wir Corona einmal hinter uns haben?

Nun, von Messeveranstaltern hört und sieht man dazu bisher wenig. Viele meinen offensichtlich, es wird wieder alles, wie es einmal war. Denn derzeit abgesagte Messen werden nicht erkennbar anders konzipiert, sondern lediglich verschoben, sollen 2022 oder später – je nach Veranstaltungszyklus – stattfinden – nur eben um Hygienekonzepte ergänzt. Innovative Messekonzepte, die den bisherigen
Veränderungen und neuen digitalen Möglichkeiten Rechnung tragen, sind schwer zu finden. Weiter warten, statt weiterdenken, scheint die Parole zu sein. Dabei ist auf Seiten der ausstellenden bzw. Event-veranstaltenden Unternehmen längst klar, dass sie auch in Zukunft – Corona hin, Corona her – die gut funktionierenden und häufig deutlich effizienteren digitalen Methoden und Lösungen
beibehalten werden – auch weil ihre Kunden und Geschäftspartner das mittlerweile durchaus goutieren.

Im Klartext heißt das: klassische Veranstaltungen in physischer Reinform wird es kaum noch geben.
Sie werden bestenfalls zu sog. hybriden Formate migrieren, d.h. zu einer Kombination aus physischen und virtuellen Elementen und damit auch zu einer Addition der jeweiligen Vorteile: Digital bringt Reichweite, örtliche Unabhängigkeit, inhaltliche Flexibilität, globale 24/7/365-Verfügbarkeit, physische Präsenzen haben ihre Vorzüge bei haptischem Erleben, Beziehungspflege und
Branchenüberblick – aber eben nur für die kurze Dauer von wenigen Veranstaltungstagen.
Präsenzteile müssten zukünftig über die digitalen Kanäle und Plattformen über den gesamten Vermarktungsprozess ergänzt werden. Die Zukunft wird – weit über bloße Hygienekonzepte und ergänzende digital laufende Vortragsprogramme hinausgehend – in integrierten Gesamtlösungen liegen, die bisher separierte Vermarktungskanäle miteinander verzahnen und geeignet sind,
Produkte und Dienstleistungen ohne Medien- oder Content-Brüche über alle Phasen synergetisch zu vermarkten. Darauf müssen / müssten sich Messeveranstalter längst einstellen und Konzepte entwickeln, wie sie die Präsenzphasen einer Veranstaltung mit der Vertriebsarbeit der Aussteller bereits im Vorfeld verlinken und wie sie die Ergebnisse der Präsenzphase verlustfrei in die nachfolgende
Vermarktungsprozesse der Messeteilnehmer überführen können. Klar ist damit aber auch, dass die großen, riesigen Infrastrukturen von Messegesellschaften, wie beispielsweise in Hannover oder Frankfurt kaum mehr zu füllen sein werden. Was dann auch ein Problem der öffentlichen Hand ist, denn gerade die großen Locations sind meist in kommunaler Hand und damit Steuer-finanziert.

Wie sieht es bei den Messe-/Eventdienstleistern aus?

Kurz gesagt, liegt diese Branche mittlerweile umfänglich am Boden, egal ob Messebau, Veranstaltungstechnik, Hostessenservice, Catering oder Mietmöbel, bis hin zum Hotel- und Gaststättengewerbe, die vor Corona mit zum Teil horrenden Preisgestaltungen zu Messezeiten Besucher und Aussteller gleichermaßen abkassiert und damit auch schon früher dazu beigetragen haben, dass Besucher ihre Verweildauer auf Messen und ausstellende Unternehmen die Zahl ihrer Standdienstmitarbeiter*innen so weit als möglich reduziert hatten.
Bei den Messe- und Event-Dienstleistern ist die Priorität derzeit, Corona wirtschaftlich zu überleben, egal wie und womit. Doch was kommt danach, wenn es Messen und Präsenzveranstaltungen nicht mehr in früherem Umfang geben wird? Wenn von den Kunden in verstärktem Maße hybrid integrierte Lösungen verlangt werden?

Bei dieser Frage muss auf Seiten der Auftraggeber von Dienstleistern zwischen großen und klein- / mittelständischen Unternehmen (KMU) differenziert werden. Die großen Unternehmen, die auf Leitmessen vor 2020 durchaus in Messestände mit Tausend und mehr Quadratmetern Millionen investiert hatten, sind in der Pandemiezeit im Bereich virtueller Formate und digitaler Tools sehr
aktiv gewesen, haben z.B. rechtlich vorgeschriebene Hauptversammlungen oder Bilanzpressekonferenzen digital veranstaltet, haben interne Ressourcen besonders im IT-Bereich aufgebaut, vom Personal bis hin zu eigenen Aufnahmestudios. Sie haben zwischenzeitlich virtuelle Großveranstaltungen bis hin zu eigenen Eventplattformen realisiert. Sie haben zukünftig entsprechend hohe Ansprüche an externe Dienstleister oder sie machen es gleich selbst. Der klassische Messebauer wird diesen Anforderungen nicht mehr gerecht werden und Großkunden verlieren.

Die KMU, früher im Schnitt mit 40 bis vielleicht 200 Quadratmetern auf Messen ausstellend, hinken der digitalen Entwicklung im Vermarktungsbereich und der virtuellen Veranstaltungswelt oft noch gravierend hinterher. Das hat einerseits zu tun mit nicht vorhandener einschlägiger Fachkompetenz im eigenen Haus (viele habe ja noch nicht einmal eine eigene Marketingabteilung), andererseits mit Kostenaversion und krisen-abwartendem Verhalten. Diese Unternehmen haben dementsprechend
auch schlechte Aussichten, sich bei der zukünftigen hybriden Veranstaltungswelt noch signifikant präsentieren zu können. Sie werden wohl auch in Zukunft noch klassische Veranstaltungen beschicken, um überhaupt noch präsent zu sein. Hier hat dann auch der klassische Messebauer auf niedrigerem Geschäftsvolumen noch Kunden.

Und die KMU, welche die Zeichen der Veränderung erkannt haben und bereits virtuelle Veranstaltungen durchführen? Sie erwerben in der Regel Softwarelizenzen für die Nutzung im Markt mittlerweile mannigfaltig erhältlicher virtueller Eventtools, auf denen sie weitgehend standardisierte Auftritte umsetzen. Mehr werden sie sich wohl auch in Zukunft nicht leisten wollen oder können.
Denn wer meint, digitale Veranstaltungen sparen Aufwand und Kosten, der irrt. Das Gegenteil ist der Fall, zumindest wenn man anspruchsvolle Lösungen will, die technisch sicher laufen, einen visuell eigenständigen Markenauftritt ermöglichen, Content attraktiv darbieten lassen und Teilnehmer*innen / Besucher*innen faszinieren können. Da braucht es dann schon einmal für eine
„simple“ Pressekonferenz oder Podiumsdiskussion einen im Vergleich zu früher ungleich höheren Aufwand, v.a. ein ausgefeiltes Techniksetting mit sicherheitsbedingt redundantem Equipment und einem Technikteam von 10, 20, 30 oder mehr Leuten – oder eben einen externen Dienstleister, der das auf die Beine und zur Verfügung stellen kann, dann aber auch entsprechenden Invest bedeutet.
Klassische Messebauunternehmen, die in diesem Geschäft mitspielen wollen, werden das aus eigener Kraft nicht mehr hinbekommen (von der Nichtverfügbarkeit entsprechender IT-Experten am Arbeitsmarkt ganz abgesehen), sie müssen dringend entsprechende IT-Dienstleister als Kooperationspartner an sich binden. Oder sie werden zum Zulieferer für Full-Service-Agenturen oder
Teil eines Agentur-Networks. Dritte Option ist, sie begnügen sich zukünftig mit den wenigeren und kleineren klassischen Projekten und werden dann ihr Unternehmen wohl auch entsprechend herunter skalieren müssen.

Eine weitere Entwicklung lässt sich bei (größeren) Unternehmen auch strukturell bereits klar erkennen: Silodenken wird abgeschafft, Schnittstellen abgebaut, Prozesse agil beschleunigt, Lieferanten noch stärker gebündelt. Das Zusammenwachsen der Medienkanäle, der digitalen und der realen Welt wird auch in den Unternehmen strukturell vollzogen. So werden bisher im Marketingbereich
getrennte Fachfunktionen, wie eine Messe-/ Eventabteilung oder eine Werbeabteilung oder eine Designabteilung oder eine Pressestelle etc. zu einer Gesamtabteilung Corporate Marketing, Corporate Brand Communications oder ähnlich tituliert zusammengefasst und meist vorstandsnah im Unternehmen verankert. Eine weitere Herausforderung für die Messe- und Eventdienstleister, denn damit ändern sich weitere ihrer bisherigen Rahmenbedingungen. Ansprechpartner und Verantwortungsbereiche bei ihren Kunden ändern sich, eingefahrene Kundenbeziehungen brechen auf und es werden durch die strukturelle Integration auf Kundenseite statt fachspezifischer Inselkonzepte verstärkt holistische Lösungen gefordert werden.

Wie werden sich die Messe- und Eventdienstleister darauf einstellen?

Fazit: Klassische Messen und Events werden nicht sterben, aber auch nicht mehr in ehemaliger Anzahl, Größe, physischer Aussteller- und Besuchermenge stattfinden. Digitale Tools und virtuelle Formate sind etabliert und werden bleiben. Daher gilt es, beide Welten synergetisch entlang des gesamten Vermarktungszyklus von Produkten und Dienstleistungen zu intelligenten hybriden Konzepten zu
kombinieren. Damit brauchen auch Corona-überlebende Messe- und Eventdienstleister veränderte Geschäftsmodelle und innovative Konzepte, wenn sie sich in Zukunft nicht mit weniger Geschäft abfinden wollen.

Prof. Ralph E. Hartleben

Prof. Hartleben ist wissenschaftlicher Leiter des Digitalen InnovationsLabors der Ostbayerischen Technischen Hochschule Amberg-Weiden in Neumarkt sowie Inhaber und Geschäftsführer des IRKUInstituts (IRKU GmbH & Co.KG, Schwabach) und unterstützt Unternehmen dabei, effizientere und wirksamere Markenstrategien, Marketingkonzepte, Kommunikationsauftritte und
Messebeteiligungen zu realisieren. Er ist weiterhin Sprecher des Branchenübergreifenden Messetreffs der Industrie (BÜM) und Mitglied in ThinkTanks mit den Verbänden FAMAB und AUMA