Jeder Mensch…

11. Mai 2021

Es ist ein kleines Büchlein, Ferdinand von Schirachs Jeder Mensch. Aber es enthält vieles, über das sich nachzudenken lohnt: Der Schriftsteller und Strafverteidiger von Schirach hat unsere Welt des 21. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Grundrechte betrachtet. In seinem Manifest – nichts anderes ist Jeder Mensch – kommt von Schirach zu dem Schluss, dass frühere Menschenrechtserklärungen die Vision einer besseren Gesellschaft enthielten. Damit die Charta der Grundrechte der Europäischen Union dies ebenfalls leistet, muss sie um sechs Grundrechte erweitert werden.

Zum Hintergrund: Die Charta der europäischen Grundrechte trat 2009 als Teil des Vertrags von Lissabon in Kraft, war aber bereits lange Jahre zuvor im Rahmen einer gemeinsamen europäische Verfassung geplant. Diese EU-Verfassung wurde von den Bürgern Frankreichs und den Niederlanden in Volksabstimmungen abgelehnt. Nach einer Denkpause einigte man sich auf einen Reformvertrag, der schließlich am 1. Dezember 2009 in Kraft trat.

Bereits 1999 war ein Europäischer Konvent eingesetzt worden, mit dem klaren Auftrag, einen Entwurf der Charta zu entwickeln. Am 2. Oktober 2000 lag dieser vor. Das ist nun 21 Jahre her.

Ließ sich damals schon absehen, in welchem Ausmaß Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Klimawandel und ausufernde Globalisierung unser aller Leben beeinflussen würden? Hätte sich jemand vorstellen können, dass demokratisch gewählte, politische Führer der westlichen Welt Lügengeschichten – Fake News – über ein Medium wie Twitter in der ganzen Welt verbreiten könnten? War vorstellbar, dass (fast) jeder und jede mit einem Smartphone ausgestattet, Tag und Nacht Zugang in das World Wide Web haben würde, dass Kryptowährungen entstehen könnten? Das sind alles revolutionäre Entwicklungen, die in den Grundrechten nur unzureichend abgebildet werden.

Von Schirach und sein Mitstreiter, der Jurist und Aktivist Bijan Moini, jedenfalls sind der Auffassung, dass die Grundrechtscharta der Europäischen Union einer Aktualisierung bedarf, um eine Vision, eine Utopie zu sein. Wir sollten zumindest darüber nachdenken, ob wir Grundrechte brauchen, die unsere digitale Selbstbestimmung stärker in den Blick nehmen. Unsere Daten sind in der digitalen Welt Ware und Währung geworden. Wer schützt uns wie vor Missbrauch? Brauchen wir Grundrechte, die sicherstellen, dass wir, aber vor allem die Generationen, die nach uns kommen, in einer intakten, gesunden und geschützten Umwelt leben. Ist es ein Grundrecht, dass Regierende die Wahrheit sagen und uns nicht belügen?

Wie gesagt, es lohnt sich, darüber nachzudenken.

 

Artikel 1 – Umwelt

Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

 

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung

Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

 

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

 

Artikel 4 – Wahrheit

Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

 

Artikel 5 – Globalisierung

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

 

Artikel 6 – Grundrechtsklage

Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

 

Charta der Grundrechte der Europäischen Union: https://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf

Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch, München, April 2021

Jeder Mensch ist erschienen im Luchterhand Verlag: Bestellen Sie hier Ihr Exemplar